Wir kommen jetzt zum letzten Punkt unseres Spaziergangs: Wir befinden uns auf dem Weidenweg, mit Blick auf die Richard-Sorge-Straße – damals noch Tilsiter Straße genannt.
Tilsiterstr. (Quelle: gettyimages.com)
Christa Ruden erinnert sich 1996 zur Gegend: „Der Bereich um den Weidenweg wurde verstärkt von bürgerlichen Kreisen, darunter Fabrikanten, Rechtsanwälten und wohlhabenden Pensionären bewohnt. Der Weidenweg war eine sehr lebendige Geschäftsgegend. Auch durch die Erzählungen meiner verstorbenen Mutter weiß ich, daß im Wohnumfeld zahlreiche jüdische Geschäfte existierten, darunter der Pelzhändler Bendina, ferner Posamentenläden (Geflechte, Stoffe) , Pfandleihen und ein Puppengeschäft am Baltenplatz.“
An dieser Station wollen wir auf weniger bekannte Formen von Ablehnung und Widerstand gegenüber dem NS-Regimes eingehen. In Deutschland gab es 1% inhaftierte Widerstandskämpferinnen aber weitaus mehr NS-Gegnerinnen. Rainer Sandvoß schätzt die Anzahl der Menschen in Berlin, die nicht mit Hitler einverstanden waren, auf bis zu 10-20%. In welcher Form der Widerstand ausgelebt wurde, lässt sich aber nicht überall feststellen.
Auch der weniger sichtbare Widerstand ist immer im Kontext der damaligen Zeit zu bewerten. Die Verweigerung, sich zu Hitler zu bekennen oder gar negative Äußerungen gegenüber dem Regime hätten zu Inhaftierung, Zuchthaus oder Deportation führen können. Die Entscheidung von Läden, beispielweise Lebensmittelgeschäften, versteckte Juden und Jüdinnen mit Essen zu unterstützen und das Geheimnis zu wahren, erforderte enormen Mut.
5.000 Juden und Jüdinnen haben versucht, die Schoah und den NS in Berlin zu überleben. Unter den insgesamt 50.000 Jüdinnen und Juden aus Berlin, die ermordet wurden, war auch ein großer Teil dieser Untergetauchten. Lediglich 1.500 Jüdinnen und Juden haben überlebt – und allein hierfür muss die Unterstützung bzw. das Mitwissen von rund 25.000 Berliner Helfer*innen erforderlich gewesen sein.
Christa Ruden und ihre Großmutter Anna Loeskow
Wir möchten daher exemplarisch von Christa Ruden und ihrer Großmutter Anna Loeskow berichten.
Die Lehrerin Christa Ruden wuchs in Friedrichshain auf und lebte im Weidenweg 27, wo ihre Großmutter Anna Loeskow ein Lebensmittelgeschäft betrieb.
In ihren Zeitzeugenberichten erzählt Christa Ruden, wie sie als Kind die Verfolgung von Juden miterlebt hat. Sie erinnernt sich, wie im Juli/August 1942 am hellichten Tag Juden aus ihren Wohnungen verschleppt wurden. Über ihre Großmutter berichtet Christa Ruden im Jahr 1996:
„Meine evangelische Großmutter Anna Loeskow war nicht nur eine kritische Beobachterin der Judenverfolgung, sondern auch aktive Helferin von Bedrohten. Davon abgesehen, daß im Geschäft wiederholt negative Äußerungen über die Nazis fielen, wenn die NS-Blockwartin, eine gefährliche Denunziantin, nicht in der Nähe war, unterstützte Oma mit Lebensmittelspenden mehrere untergetauchte Juden. Sie steckte auch Zwangsarbeitern Brote zu. Ihr Neffe Franz Tesch holte die Sachen immer wieder mit dem Rucksack ab. (….)“
Anna und Max Christiansen-Clausen
Wenige Meter von uns befindet sich die Richard-Sorge-Straße 8 (damals Tilsiter Straße), in welcher das Ehepaar Anna und Max Christiansen-Clausen lebte. Es befindet sich eine Gedenktafel am Haus.
Anna und Max Christiansen-Clausen waren Mitglieder der KPD und der Kundschaftergruppe um Dr. Richard Sorge. Beide lebten einige Zeit in China, wo Max Christiansen-Clausen als Funker für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete.
Anna Wallenius, eine Russin, die durch frühere Heirat die finnische Staatsbürgerschaft besaß, lebte schon einige Jahre in China. Als Ehefrau von Max Christiansen-Clausen wurde sie Kurierin der Kundschaftergruppe um Richard Sorge. 1935 zogen die beiden nach Tokio. Die in Japan tätige Sorge-Gruppe informierte die Sowjetunion unter anderem über den bevorstehenden Überfall der deutschen Wehrmacht. Anna Christiansen-Clausen brachte als Kurierin wichtige Filmrollen – am Körper versteckt – nach Shanghai. Am 18. Oktober 1941 wurde das Ehepaar zusammen mit Richard Sorge in Tokio verhaftet. Anna Christiansen-Clausen wurde 1943 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihr Ehemann erhielt eine lebenslange Haftstrafe, Richard Sorge wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.
1945 wurden Anna und Max Christiansen-Clausen durch die US-amerikanischen Truppen befreit und gingen Christiansen-Clausens nach Moskau und 1946 nach Berlin. Hier erhielten die Clausens auch den neuen Namen Christiansen. Anna Christiansen-Clausen arbeitete für die Volkssolidarität. In der DDR galt sie als eine vorbildliche, »gute Spionin«, die mit der Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatte.
Gertrud Petzold
Als letztes soll hier Gertrud Petzold erwähnt werden. 1874 geboren gründete sie nach ihrer Buchdruckerlehre 1890 den Verband der Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen im Buchdruckergewerbe mit. Seit 1918 war sie Mitglied der USPD und 1920 erfolgte der Übertritt zur KPD. Sie gehörte 1933-36 einer illegalen kommunistischen Gruppe in Friedrichshain an und wohnte in der Tilsiter Straße 78 (jetzt Richard-Sorge-Straße). 1934, also im Alter von 60 Jahren, brachte sie aus Basel die Schrift „Die wahren Anstifter des Reichstagsbrandes in Deutschland“ mit. Darüber hinaus hat sie sich an antifaschistischen Solidaritätssammlungen für Genoss*innen und Propagandaaktionen gegen die Nazis beteiligt. Deswegen wurde sie am 30. März 1936 verhaftet und 1937 zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach ihrer Entlassung setzte sie die illegale Tätigkeit fort. Sie war inzwischen 65 Jahre alt. Ihr weiterer Lebensweg ist bisher unbekannt.
Ende
Damit endet unser Spaziergang. Wir hoffen, dass wir euch etwas Neues erzählen konnten und auch die Beudeutung von Frauen im Widerstand näher bringen konnten. Wie schon anfangs gesagt, findet sich Gedenken an Frauen im Stadtbild weitaus seltener als an Männer. Daher ist uns es wichtig, die Namen und Orte dieser Antifaschist:innen sichtbar zu machen.
Quellen:
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Friedrichshain
und Lichtenberg, Band 11 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945
Herausgeber: Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Biografien und Briefe Band 1 und 2: Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Dietz Verlag 1970.
Aufnahme zur Veranstaltung – Antifaschistischer Widerstand in einem Arbeiterbezirk: Wedding zwischen 1933 und 1945. https://www.unverwertbar.org/aktuell/2019/3788/